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Anfang November 2018 zog sich Julius Kühn im EM-Qualifikationsspiel im Kosovo einen Kreuzbandriss zu und verpasste somit die Heim-WM. Nun ist der Rückraumhüne der MT Melsungen wieder zurück, feierte Ende Oktober gegen Kroatien sein Länderspiel-Comeback. Obwohl gerade von seinen Hammerwürfen viel erwartet wird, setzt sich Kühn nicht unter Druck, wie er in diesem Interview betont.
Wie fühlte sie sich an, diese langersehnte Rückkehr nach einem Jahr Verletzungspause?
Julius Kühn: Ich bin echt froh, wieder dabei zu sein, aber dafür ist es für mich nicht getan, ich will ja auch noch einiges erreichen. Dieses eine Jahr Leidenszeit ist jetzt vorbei, ich habe es geschafft, jetzt habe ich, jetzt haben wir auch hohe Ziele.
Wie sieht Ihre persönliche Bilanz der beiden Testspiele gegen Island und Österreich aus?
Julius Kühn: Es lief schon ganz gut, wobei ich noch an meiner Torquote arbeiten muss. Ich habe gesehen, dass ich bei einer offensiven Deckung wie von Island nicht so viele Chancen bekomme. Aber generell bin ich froh, dass jetzt endlich losgeht.
Sorgen die beiden Erfolge für Rückenwind bei der EM?
Julius Kühn: Das denke ich schon, denn wir haben vor allem gegen Island schon recht viel von dem umgesetzt, was wir uns vorgenommen hatten. Gegen Österreich haben wir uns zu viele einfache Fehler geleistet und den Gegner zu Toren eingeladen. Das müssen wir am Donnerstag zum EM-Start gegen die Niederlande auf jeden Fall abstellen.
Wo liegt Ihre Ziellinie für die EM?
Julius Kühn: Alles ist realistisch, selbst, wenn wir von einem Halbfinale oder Finale sprechen. Man muss aber auch so ehrlich sein, dass man in der Hauptrunde rausfliegen kann. Es ist schwierig zu sagen im Moment, auch wegen unserer Personalsituation. Aber mit der müssen wir uns eben abfinden, da können wir nichts dran ändern, dass zum Beispiel ein Megaspieler wie Fabian Wiede nicht dabei ist. Jetzt müssen andere Spieler diese Verantwortung verteilen. Für mich ist dennoch ein Halbfinaleinzug absolut realistisch, und dann ist sowieso alles offen. Mittlerweile gibt es allerdings mindestens acht, neun Mannschaften, die sich um das Halbfinale streiten.
Ist die aktuelle Situation vergleichbar mit der Lage vor und während der dann siegreichen EM 2016?
Julius Kühn: Das ist uns allen durch den Kopf gegangen, dass es ähnlich wie 2016 ist. Und damals hatte niemand damit gerechnet, wie es dann gekommen ist. Aber ich glaube, dass die anderen Nationen uns jetzt nicht mehr so unterschätzen werden wie 2016, sie haben uns auf dem Zettel, weil sie wissen, dass wir eine gewaltige Qualität im Kader haben. Jeder Spieler, der aktuell dabei ist, kann in seinem Verein Spiele alleine entscheiden – und das ist positiv für die gesamte Mannschaft. Die Breite ist schließlich schon immer unsere Stärke gewesen. Und jetzt ist ein guter Zeitpunkt gekommen, um das zu zeigen.
Was verlangt Bundestrainer Christian Prokop von Ihnen?
Julius Kühn: Dass ich mich vor der Verantwortung nicht verstecke und dass ich eine Schlüsselrolle einnehme. Im letzten Jahr haben diese einfachen Tore aus der Distanz gefehlt, das Angriffsspiel hat ein bisschen gehakt. Und daher erwartet Christian Prokop, dass ich mir diese Würfe nehme, denn im internationalen Geschäft braucht man diese Rückraumtore. Das hat man bei der vergangenen WM gesehen, dass mit diesen Toren einiges leichter fällt. Aber es sind ja nicht nur die Erwartungen des Bundestrainers, sondern auch das, was ich von mir selbst erwarte, und was die Mannschaft von mir erwartet.
Aber ist die Erwartungshaltung nicht schon ein bisschen zu hoch?
Julius Kühn: Nein, ich kann selber mit diesem Druck umgehen, weil ich mich selber diesem Anspruch stelle. Ich wollte mich noch nie verstecken, jetzt kann ich diese Verantwortung übernehmen, was ich immer wollte. Wenn es jetzt so weit ist, kann man dann nicht sagen, das ist mir zu viel. So muss ich jetzt meinen Mann stehen und mit guter Leistung überzeugen, dann komme ich hoffentlich in den Flow, dann ist das auch alles etwas leichter.
Ein anderer Rückkehrer ist Johannes Bitter – wie sehen Sie dessen Comeback?
Julius Kühn: Johannes Bitter versprüht einfach eine positive Aura, der hat schon im Tor der Nationalmannschaft gestanden, als ich noch klein war. Da habe ich ihn bewundert, heute ist er mein Teamkamerad, von ihm kann jeder Spieler etwas mitnehmen. Fürs Teamgefüge ist er eine ganz wichtige Person.
Die Abwehr war in den vergangenen Jahren die Basis des Erfolgs, steht die Defensive angesichts der Verletztenliste im Rückraum noch mehr im Fokus?
Julius Kühn: Es hat uns immer ausgezeichnet, dass wir eine richtig gute Abwehr mit starken Torhütern hatten. Dann wurde es ganz schwer, uns zu schlagen. Und das ist der Anspruch, den wir auch jetzt haben. Die Abwehr muss bei der EM wieder unser Prunkstück werden.
Sie sind ausgewiesener Experte für American Football und die NFL – haben Sie andere Spieler schon mit diesem Fieber infizieren können?
Julius Kühn: Mein Zimmerkollege Kai Häfner hat mit mir schon die eine oder andere Partie geschaut. Jetzt sind grade die Playoffs gestartet, die sind jetzt etwas schwierig live zu schauen, weil sie mitten in der Nacht sind – das wäre also keine professionelle Vorbereitung auf die EM-Spiele.
(BP)