„Wir haben mehr Talente als Norwegen oder Dänemark“
André Fuhr und Markus Gaugisch. - Foto: Imago Images / Pressefoto Baumann
27.05.2021 Verband

„Wir haben mehr Talente als Norwegen oder Dänemark“

Zweiter Teil des Doppel-Interviews mit den Erfolgstrainern André Fuhr (Borussia Dortmund) und Markus Gaugisch (SG BBM Bietigheim)

Nachdem sich die Trainer André Fuhr (50, Borussia Dortmund zugleich U19/U20-Nationalmannschaft) und Markus Gaugisch (47, SG BBM Bietigheim) im ersten Teil des großen Doppel-Interviews mit der Saisonbilanz der Klubwettbewerbe beschäftigt haben, dreht sich Teil zwei um die Frage: Wie kann der deutsche Frauenhandball erfolgreicher werden? Was muss sich ändern, wo sind wir gut? Dabei geht der Blick auf die Frauen-Nationalmannschaft und die Nachwuchsförderung.

Wie sehen Sie die Wechselwirkung aus Champions League und Nationalmannschaft?
André Fuhr: 14 Partien auf diesem Niveau sind ein strammes Programm - aber genau daran reifst du als Spielerin natürlich. Unsere Spielerinnen haben davon profitiert, und selbst von Spitzenmannschaften wie den Final4-Teilnehmern Brest und Moskau waren wir nicht so weit entfernt. Wir haben definitiv an Cleverness und Erfahrung zugelegt - und mit etwas mehr Erfahrung hätten wir drei bis fünf Punkte mehr haben können. Und speziell für unsere Nationalspielerinnen war es aber ganz wichtig, auf diesem Level zu spielen, davon hat eine Alina Grijseels definitiv profitiert.

Markus Gaugisch: Es ist für jede Nationalspielerin extrem wichtig, diese Champions-League-Erfahrung zu machen, und jede Woche 60 Minuten auf höchstem Niveau gefordert zu werden. Das zahlt sich für Bietigheim und Dortmund und entsprechend für die Nationalmannschaft aus. Junge Spielerinnen wie Amelie Berger oder speziell Julia Maidhoff haben eine sehr gute Champions-League-Saison gespielt. Von diesen Erfahrungen profitiert am Ende auch die Nationalmannschaft.

Liegen Sie mit Bundestrainer Henk Groener auf einer Wellenlänge, was dessen Forderung nach Professionalisierung und internationaler Erfahrung der Nationalspielerinnen betrifft?
André Fuhr: Ich habe das Thema oft mit Henk diskutiert, wir waren da aber nicht immer einer Meinung. Man muss das Thema Karriereplanung für jede Spielerin ganz individuell sehen. Für die Eine kann ein Wechsel ins Ausland gut sein, für eine andere ist es ein Wechsel innerhalb der Bundesliga. Generell müssen wir aber die Bundesliga stärken, damit die deutschen Vereine in der Champions League auf Schlagdistanz zu den Großen und näher zum Final 4 kommen. Daher muss es unser großes Ziel sein, möglichst viele starke Spielerinnen und starke Vereine in Deutschland zu haben. Jeder Wechsel ins Ausland schwächt unsere Liga.

Markus Gaugisch: Champions League zu spielen ist extrem wichtig für die Nationalspielerinnen, sie müssen jede Woche auf höchstem Niveau spielen. Henk Groener hat in den Lehrgängen sehr wenig Zeit, sodass er in diesen Tagen nicht an der individuellen Entwicklung der Spielerinnen arbeiten kann. Diese Entwicklung muss in den Vereinen geschehen, und die Spielerinnen selbst müssen dazu bereit sein, um auf internationales Niveau zu kommen. Aber: Professionellen Handball gibt es nicht nur im Ausland, da ist Henk auch missverstanden worden.

Zum Beispiel in Ungarn hat Frauenhandball in der gesellschaftlichen Wahrnehmung einen anderen Stellenwert. Die strukturellen Gegebenheiten führen dazu, dass dort immer optimale Bedingungen herrschen. Diese Struktur muss in den kommenden Jahren auch in Deutschland wachsen. In der HBF ist es für die Spielerinnen oft der Spagat zwischen Leistungssport, Schule, Uni und Beruf. Um international erfolgreich zu sein, muss man zweimal am Tag trainieren. Entsprechend müssen sich die Spielerinnen für reinen Profisport entscheiden, da kann man nicht noch parallel arbeiten. Das ist immer die Frage nach dualer Karriere, wie in den meisten Bundesligavereinen, oder Profitum. Grundsätzlich geht beides in Deutschland und im Ausland, der Schwerpunkt muss allerdings auf der Seite des Handballs liegen. Ein wichtiger Punkt ist, dass Leistungssport nicht erst mit Mitte 20 beginnt, sondern man schon in der B-Jugend entscheiden muss, wie viel und wie gut man trainieren will.

Was können in diesem Sinne die Bundesliga-Vereine machen, um Nachwuchsspielerinnen besser zu integrieren und zu entwickeln?
André Fuhr: Wir haben viele Talente in Deutschland - mehr als in Norwegen, Dänemark oder den Niederlanden, weil hier einfach viel mehr Mädchen Handball spielen. Aber wir schaffen es zu selten, diese Spielerinnen auf absolutes Topniveau zu bringen, das machen andere Länder besser, die uns dann bei den Frauenturnieren besiegen. Wir sind ja nicht Lichtjahre von der Weltspitze entfernt, sondern nur Nuancen, aber dies seit einiger Zeit konstant, ohne näher ran zu kommen. Wir müssen vielleicht mal bei anderen Ländern schauen, was sie besser machen als wir - ohne diese Länder aber zu kopieren.

Zum Beispiel die Niederlande: da ist das Land viel kleiner, deswegen kann man dort eine zentrale Akademie wie in Papendal machen. Und dort ist es völlig klar, weil die Liga so schwach ist, dass die talentierten Spielerinnen mit 18, 19 Jahren ins Ausland gehen müssen. Bei uns ist die Liga viel stärker, deswegen müssen nicht alle ins Ausland gehen, um sich zu entwickeln. Also schauen ja, aber dabei einen eigenen Stil entwickeln, wie das beim DHB mit den Bundestrainern Athletik und Torhüter schon geschehen, da gibt es zum Beispiel schon tollen Input bis hinunter zur Basis.

Zudem ist das Thema Karriereplanung sehr komplex. Es geht um das Gesamtpaket, das ein Verein bieten kann - und da fehlt manchmal die Weitsicht, speziell bei den Beratern der Spielerinnen. Bei dem einen Verein hätte die Spielerin viele Spielanteile, aber da sind Lerneffekt und Entwicklung im Training gering, bei dem anderen Verein spielt sie weniger, lernt dafür aber viel im Training.

Markus Gaugisch: Ganz wichtig ist, dass die Mädchen so früh und kontinuierlich wie möglich die handballerischen und leistungssportlichen Basics verinnerlichen. Handball ist mittlerweile sehr komplex. Das individuelle Training hat sich in den vergangenen Jahren etabliert, hinzu kommen jedoch die spielerischen Komponenten. Ein weiterer Faktor ist die Qualität der Trainingsgruppe. Nur in einer starken Gruppe kann sich die Einzelne entwickeln. Bei den Jungs ist beobachtbar, dass sich regionale Schwerpunktvereine oder Leistungszentren deutlich früher herauskristallisieren. Bei den Mädchen dauert dieser Schritt länger, das heißt, ein Talent ist manchmal zu lange in einer Trainingsgruppe, in der es sich nicht mehr entwickeln kann, weil die Qualität der anderen fehlt. Ein weiterer Unterschied zwischen Jungen und Mädchen ist, dass die Jungs durch Basketball oder Fußball auf dem Schulhof oder Bolzplatz oft eine ganz andere sportspezifischere Freizeitgestaltung haben und dort bereits spielerische Verhaltensweisen erlernen.

Was kann man also besser machen, um den deutschen Frauenhandball besser zu machen?
Markus Gaugisch: Wir müssen alle verinnerlichen, dass die Nationalmannschaft das A und O ist. Macht sie nicht den nächsten Schritt, machen die Vereine und die Liga auch nicht den nächsten Schritt - und natürlich umgekehrt. Alle Beteiligten müssen diesen Dialog wirklich wollen, um an der Entwicklung jeder Spielerin zu arbeiten. Ohne ein erfolgreiches Nationalteam können sich Vereine und HBF nicht optimal positionieren. Man sollte nicht immer vor der eigenen Haustür schauen, sondern Weitblick etablieren. Trainer müssen sich austauschen, alle müssen mehr miteinander kommunizieren, als übereinander zu reden. Im Bereich der Zusammenarbeit im gegenseitigen Interesse kann noch vieles besser werden.

Sie sprechen den Wechsel von Balingen nach Bietigheim an - was ist anders im Frauenhandball als im Männerhandball?
Markus Gaugisch: Auf keinen Fall die Intensität oder die Trainingsumfänge. In Bietigheim haben wir im selben Rhythmus trainiert wie in Balingen oder Neuhausen. Auch die Ansprache ist gleich, ich kann und will mich nicht verstellen. Ein Unterschied ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Männer vertrauen schneller in die eigene Stärke, unter dem Motto: „Das machen wir jetzt einfach“, dieser Prozess dauert bei Frauen deutlich länger.

Ganz konkrete Schlussfrage an André Fuhr: Im Sommer steht für Sie Ihr erstes Turnier als Bundestrainer an - die U19-EM in Slowenien. Wie ist der Stand der Vorbereitung, mit welchen Zielen geht es zur Europameisterschaft?
André Fuhr: Uns fehlt mindestens ein halbes Jahr an Vorbereitung. Wir hatten nur zwei Lehrgänge zum Scouten, Lernen und Teamaufbau - das kann man nicht alles zusammen bewältigen. Das Problem ist, dass einige Spielerinnen monatelang gar nicht spielen oder trainieren konnten, weil sie in der 3. Liga spielen. Daher sollten wir beim Turnier nicht allzu hohe Erwartungen haben, aber was in dieser Mannschaft auf jeden Fall stimmt, sind Ehrgeiz und Motivation, die geben immer alles. Darauf werden wir aufbauen und sehen, wie weit wir kommen.

(BP)

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