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Nur Uwe Gensheimer (176) und Johannes Bitter (146) haben im aktuellen deutschen EM-Kader mehr Länderspiele absolviert als Patrick Wiencek, der am Donnerstag beim ersten EM-Spiel gegen die Niederlande (18.15 Uhr, live im ZDF) zum 139. Mal im DHB-Trikot aufläuft. Der 30-jährige Kreisläufer des THW Kiel startet bei der EHF EURO erstmals als aktueller Handballer des Jahres. Das Wort des Führungsspielers hat Gewicht, und mit seinen Emotionen feuert er das Team immer wieder an. Das er eigentlich ein anderer Typ ist, erklärt Patrick Wiencek in diesem Interview.
Die Vorbereitung war dieses Jahr extrem kurz – wie geht man mit einer solchen Situation um?
Patrick Wiencek: Wir hatten seit Saisonstart bis 29. Dezember 40 Pflichtspiele in den Knochen, das war ein extrem strammes Programm. Und dann haben wir genau vier Vorbereitungstage für ein solch wichtiges Turnier, das ist schon kurz. Andere Nationalteams haben am 15. Dezember mit ihrem ersten Vorbereitungslehrgang begonnen, ich hoffe, dass das jetzt nicht unser Nachteil ist. Aber wir kennen uns gut, sind eingespielt, da gibt es viele Automatismen.
Können Sie den Hebel schnell umlegen von THW zu DHB?
Patrick Wiencek: Das geht ganz schnell, die Taktik ist etwas anders, die Mitspieler kennt man. Da ist der Schalter schnell umgelegt, wir müssen den Handball ja nicht neu erfinden, wenn wir zusammenkommen.
Sie kamen leicht angeschlagen zum Lehrgang, ist mit Blick auf die morgen beginnende EM alles wieder in Ordnung?
Patrick Wiencek: Ja, die zusätzlichen freien Tage haben meinem Knie gutgetan, alles in Ordnung! Ich habe jetzt eine Mega-Vorfreude, dass es losgeht, so eine Europameisterschaft ist ja schon etwas Besonderes.
Wie wichtig waren mit Blick auf den Start gegen die Niederlande die beiden Testspielsiege gegen Österreich und Island?
Patrick Wiencek: Das sorgt natürlich für Rückenwind und Selbstvertrauen. Das Spiel gegen Österreich hat aber auch genau aufgezeigt, was wir noch besser machen müssen. Wir haben durch zu viele verpasste Chancen den Gegner quasi zu Toren eingeladen, das darf uns ab Donnerstag nicht mehr passieren. In der Abwehr standen wir schon ganz gut, aber auch dort müssen wir noch besser zusammenfinden. Es wird ein langes Turnier, da muss man mit den Kräften haushalten und trotzdem immer hundert Prozent da sein.
Wie wichtig wird gerade auf Ihrer Position daher die Rotation sein?
Patrick Wiencek: Drei Spieler aus unserem Mittelblock sind eben auch die Kreisläufer, und wir arbeiten sehr, sehr viel, was manche vielleicht gar nicht so sehen, zum Beispiel, um unserer Rückraumspieler frei zum Wurf kommen zu lassen. Das ist Schwerstarbeit. Da ist es ein Riesen-Pluspunkt, dass Hendrik Pekeler und ich auch beim THW Kiel zusammenspielen. Wir verstehen und blind und ohne Worte, jeder weiß, was der andere macht. Das kommt dem Nationalteam schon sehr zugute. Und dahinter hext uns Andy Wolff hoffentlich durchs Turnier, der geht ja richtig ausgeruht in die EM.
Bei der Heim-WM waren die Fans ein wichtiger Faktor – kann die deutsche Mannschaft ähnliche Leistungen auch fern der Heimat abrufen?
Patrick Wiencek: Die WM mit vollen Hallen voller deutscher Fans war natürlich genial, aber wir müssen unsere Leistung auch dort abrufen, wo die Halle nicht in deutscher Hand ist. Wir werden uns gegenseitig pushen, das steht fest.
Es ist Ihr erstes großes Turnier nach der erstmaligen Wahl zum Handballer des Jahres – hat sich für Sie irgendetwas geändert durch diese Auszeichnung?
Patrick Wiencek: Das war letztes Jahr eine Riesenehre, eine Überraschung und eine Mega-Freude für mich, denn diese Auszeichnung war eine Trophäe für die Abwehrleistung. Aber das hätte andere wie Hendrik Pekeler genauso verdient gehabt. Ich habe mich riesig gefreut, aber geändert habe ich mich sicherlich nicht. Ich denke, seit der Heim-WM sind wir alle bekannter geworden, auch die Nicht-Handball-Fans erkennen einen auf der Straße. Das hat sich eher geändert für mich. Wir sind präsenter in der Öffentlichkeit.
Ihr Wort hat Gewicht – wie sehen Sie Ihre aktuelle Rolle im Nationalteam?
Patrick Wiencek: Wir erfahrenen Spieler sind die Vermittler zwischen Trainer und Mannschaft. Christian Prokop bespricht mit uns viele Dinge, die wir dann mit der Mannschaft besprechen. Andersherum sind wir die Ansprechpartner für die Spieler. Christian gibt der Mannschaft viele Möglichkeiten, sich einzubringen, er geht sehr offen mit uns um, und das ist eine sehr positive Sache.
Neben Andreas Wolff sind Sie derjenige, der als Motivator die Mannschaft immer wieder antreibt – sind Sie außerhalb des Handballs ähnlich emotional oder eher nur auf dem Feld?
Patrick Wiencek: Wer mich kennt, weiß, dass ich eher der ruhige Typ bin, aber auf dem Feld ist das anders, das ergibt sich dann einfach. Wenn ich heiß bin, muss das eben raus, da werde ich sehr emotional und versuche die Mannschaft, aber auch die Fans mitzureißen. Das kommt aber situativ, das kann man nicht so anknipsen.
Ist der Druck bei der EM geringer, weil die DHB-Auswahl das Ticket für die Olympiaqualifikation schon in der Tasche habt?
Patrick Wiencek: Olympia ist für mich so weit weg, uns geht es nur darum, eine möglichst erfolgreiche EM zu spielen. Und Druck kommt bei uns nicht von außen, sondern nur von innen. Druck haben wir in jedem Bundesligaspiel, da können wir mit umgehen. Wir wollen viel erreichen und bauen uns den Druck so selbst auf, aber da denken wird definitiv nicht an Olympia, sondern nur an die EM.
(BP)